Akt I – Der Schneesturm
Elin
Der Morgen wirkt, als hätte ihn jemand in Watte gepackt. Alles ist leiser als sonst, selbst das Bad, in dem jeder Ton sonst so hart zurückhallt. Ich stehe vor dem Spiegel und versuche, mit kalten Fingern meinen Zopf halbwegs ordentlich zu binden. Ein paar Strähnen rutschen trotzdem heraus. Sie tun das immer, egal wie fest ich ziehe. Vielleicht soll es so sein. Vielleicht passe ich nicht zu perfekten Linien.
Draußen pfeift der Wind. Ein dumpfes, mahlendes Geräusch, als würde der Sturm versuchen, sich in den Ritzen des alten Hauses festzukrallen. Ich zucke kurz zusammen, obwohl ich weiß, dass Winterstürme hier oben normal sind. Trotzdem wirkt dieser heute anders. Dichter. Unruhiger.
Ich beuge mich näher zum Spiegel, mustere mein Gesicht. Blass, wie üblich. Meine Augen wirken müde, obwohl ich gestern früh im Bett war. Oder vielleicht nicht müde… eher überladen. Zu viele Gedanken, die die Nacht nicht losgelassen hat. Ich drücke die Lippen zusammen und streiche die Strähnen erneut hinters Ohr. Vergeblich. Natürlich.
„Nur ein Tag wie jeder andere“, murmele ich und meine Stimme klingt fremd, fast heiser. Ich räuspere mich. „Bücherei, Tee, Katalogisieren. Wie immer.“
Mein Handy vibriert einmal. Eine Wetterwarnung leuchtet auf. Schneefall, starke Windböen. Reisen vermeiden.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Reisen vermeide ich generell, also sollte ich sicher sein. Der Gedanke beruhigt mich ein wenig. Ich schnappe meine Tasche, überprüfe gedankenverloren, ob ich meinen Schlüssel eingepackt habe, und gehe in die Küche. Der Wasserkocher klickt, als ich ihn starte, als würde er mir zustimmen, dass Kaffee heute genauso dringend ist wie ein warmer Pullover.
Während ich warte, sehe ich hinaus. Die Straße liegt bereits in einem hellen, dichten Schleier. Die Häuser gegenüber verschwimmen lila-grau im Morgenlicht. Nordhamn in einem seiner typischen Wintergesichter: still, roh, wunderschön und unnahbar. Ich liebe diesen Ort. Meistens. Manchmal auch nicht, aber das liegt dann eher an mir als am Ort.
Ich gieße mir den Kaffee ein, nehme die Tasse in beide Hände und halte einen Moment inne. Wärme gegen die Kälte. Wärme gegen die Nervosität, die ich nicht erklären kann. Eine Vorahnung sitzt mir im Nacken, so leicht und gleichzeitig schwer, als würde etwas kommen, das zu groß ist für meine ruhige Welt.
„Blödsinn“, flüstere ich und schüttle den Kopf. „Wahrscheinlich nur der Sturm.“
Ich trinke den letzten Schluck, ziehe meine Stiefel an und öffne die Haustür. Sofort schlägt mir der Schnee ins Gesicht. Hart. Eisig. In Sekundenschnelle sammelt sich etwas davon auf meinen Wimpern. Ich ziehe meinen Schal höher, tief über die Nase, und gehe los.
Der Weg zur Bibliothek ist nicht weit, aber heute fühlt er sich länger an. Der Wind zerrt an meiner Jacke, als wäre er beleidigt, dass ich mich ihm entgegenstelle. Ich halte den Kopf gesenkt, atme die beißende Kälte ein und taste mich den vertrauten Weg entlang. Links die Bäckerei, die noch geschlossen ist. Rechts der kleine Platz mit der gefrorenen Statue, die aussieht, als würde sie den Himmel um Vergebung bitten.
Als ich schließlich die Bibliothek erreiche, bin ich durchgefroren. Die alte Holztür knarrt, als ich sie aufstoße, und der vertraute Geruch schlägt mir entgegen: Papier, Staub, ein Hauch von harzigem Holz. Als würde die Zeit hier langsamer laufen. Vielleicht tut sie das auch.
Ich schließe die Tür hinter mir und reibe meine Hände aneinander. Die Heizung läuft schon — sie braucht ihre Zeit, um den Raum wirklich warm zu bekommen, aber es ist besser als draußen. Ich stelle meine Tasche hinter den Tresen, ziehe die Mütze ab und atme tief durch. „Da bin ich“, sage ich leise in den Raum hinein, als bräuchte er eine Begrüßung.
Die Bücherei antwortet nicht, aber sie wirkt, als hätte sie mich erwartet.
Ich beginne meine übliche Morgenroutine. Lichter an. Rückgaben sortieren. Eine Liste anfertigen, was heute erledigt werden muss. Der Sturm macht es unwahrscheinlich, dass viele Menschen kommen, aber gerade das gibt mir eine Art trügerische Ruhe. Weniger Menschen bedeutet weniger Gespräche. Weniger Gespräche bedeutet weniger Gelegenheiten, unbeholfen zu wirken.
Gerade als ich nach einem Stapel Romane greife, höre ich ein dumpfes Poltern draußen. Irgendetwas kracht gegen die Hauswand. Ich zucke zusammen, halte inne. Der Wind, rede ich mir ein. Nur der Wind.
Ich versuche, mich wieder auf die Bücher zu konzentrieren, aber ein zweiter Schlag ertönt. Dieses Mal näher. Kein Wind. Zu schwer und zu zielgerichtet.
Ich gehe langsam zur Tür, meine Finger kribbeln. Es ist dumm, die Tür zu öffnen, ohne zu sehen, wer oder was dahintersteht, aber ich bin zu neugierig. Vielleicht ist es auch nur eine herabgefallene Schneescholle vom Dach.
Ich ziehe die Tür einen Spalt weit auf — und sehe zuerst nur Weiß. Dichter Schnee, der sofort ins Innere wirbelt. Ich halte einen Arm vors Gesicht und trete einen Schritt zurück. Und dann erkenne ich eine Gestalt.
Ein Mann. Groß, Kapuze tief ins Gesicht gezogen, Schneeflocken auf den Schultern, als wäre er gerade durch einen Sturm aus einer anderen Welt gestiegen. Seine Jacke ist von oben bis unten mit Schnee bedeckt, und er hält den Arm vor die Augen, um überhaupt etwas sehen zu können. Als er die Tür erreicht, wirkt es, als hätte er alle Kraft zusammengenommen, um dorthin zu gelangen.
„Ist offen“, rufe ich gegen den Wind, und er tritt ein, stolpert beinahe über die Schwelle, und ich schließe die Tür hinter ihm, so schnell ich kann. Der Wind dröhnt noch kurz dagegen, dann wird es schlagartig still. Nur unser beider Atem füllt den Raum.
Er schiebt die Kapuze zurück. Schneeflocken kleben in seinem Haar, auf seinen Wimpern. Seine Augen sind dunkel, suchend, ein bisschen erschöpft. Ich weiß nicht, warum mein Herz schneller schlägt, vielleicht vor Schreck, vielleicht wegen der plötzlichen Nähe eines Fremden.
„Danke“, sagt er heiser. „Ich hätte es sonst nicht bis ins Dorf geschafft.“
Ich nicke, weil Worte in meinem Hals stecken bleiben. „Schon gut. Setz dich kurz.“
Er löst den Reißverschluss seiner Jacke, langsam, als würde er jede Bewegung sorgfältig abwägen. Der Schnee tropft leise auf den Boden. Er sieht sich in der Bibliothek um, seine Stirn legt sich in Falten — als hätte er etwas erwartet, das nicht da ist. Oder etwas gesehen, das ich nicht sehe.
„Ich… hoffe, das ist okay“, sagt er. „Ich wollte nirgendwo eindringen.“
„Du bist nicht eingedrungen“, erwidere ich, vielleicht ein bisschen zu schnell. Meine Stimme klingt dünn. „Es ist ein öffentlicher Ort.“
„Im Sturm?“, fragt er ruhig.
Ich presse die Lippen zusammen.
Ein Windstoß rüttelt an der Tür, so heftig, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Er sieht das und irgendetwas verändert sich in seinem Blick. Nicht Mitleid. Eher Aufmerksamkeit.
Dann, gerade als ich nach Luft holen will, passiert es.
Ein dumpfer Knall von draußen. Nicht der Wind. Tiefer, schwerer. Das Geräusch lässt uns beide herumfahren.
„Was war das?“, frage ich, aber meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Er richtet sich auf. „Weiß ich nicht.“
Ein weiterer Knall. Näher. Dann fällt das Licht in der Bibliothek aus. Dunkelheit. Komplette, dichte Dunkelheit. Ich spüre nur meinen Atem. Und seinen. Und das Gefühl, dass wir nicht die Einzigen sind, die gerade Schutz suchen.

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