Neulich saß ich mit einer Freundin im Café. Es war einer dieser Nachmittage, an denen man sich einfach treiben lässt. Cappuccino in der Hand, Menschen um uns herum, aber wir mittendrin in einem dieser ehrlichen Gespräche, die zwischen zwei Seelen mehr bewegen können als ein ganzes Wochenende voller Smalltalk.
Sie sah mich an, ein wenig unsicher, und sagte: „Ich fühle mich auf Partys immer fehl am Platz. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich steh oft einfach nur rum und hoffe, dass mich keiner anspricht. Ich glaube, ich bin einfach schüchtern.“
Ich lächelte sie an, legte meinen Kopf leicht schief und sagte: „Vielleicht bist du gar nicht schüchtern. Vielleicht bist du einfach introvertiert.“
Sie runzelte die Stirn. „Gibt es da überhaupt einen Unterschied?“
Oh ja. Und der ist viel wichtiger, als viele denken. Wie lange ich dachte, ich sei einfach nur schüchtern…

Was bedeutet es, introvertiert zu sein?
Introvertiert zu sein heißt nicht, dass du unsozial bist. Oder dass du keine Freunde willst. Es bedeutet einfach nur, dass du deine Energie anders tankst. Während extrovertierte Menschen sich durch Gesellschaft lebendig fühlen, fühlt sich der gleiche Trubel für Introvertierte manchmal wie ein innerer Sturm an.
Ich erinnere mich an eine Familienfeier vor ein paar Jahren. Alle lachten, erzählten, waren laut und lebendig. Ich mochte sie, diese Menschen. Wirklich. Aber nach zwei Stunden spürte ich, wie meine Energie sank. Ich verzog mich still in ein leeres Zimmer, saß dort ein paar Minuten, atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Nicht, weil ich die anderen nicht mochte. Sondern weil mein Akku leer war.
So ist das mit der Introversion. Es geht nicht um Abneigung gegen Menschen. Es geht um Selbstschutz. Um das Bedürfnis nach Ruhe.
Und was ist Schüchternheit?
Schüchternheit ist ein anderes Tier. Sie kommt mit Angst. Angst davor, bewertet zu werden. Ausgelacht zu werden. Nicht zu genügen. Sie flüstert dir ins Ohr: „Sag besser nichts. Was, wenn es dumm klingt? Was, wenn du rot wirst? Was, wenn…“
Ich erinnere mich an die Schule. An all die Male, wo ich die Antwort wusste, aber meine Hand nicht hob. Nicht, weil ich keine Lust hatte. Sondern weil mein Herz raste bei dem Gedanken, etwas Falsches zu sagen. Ich war nicht introvertiert in diesen Momenten. Ich war schüchtern.
Der feine, aber entscheidende Unterschied
Und genau hier liegt der Unterschied:
- Introvertierte brauchen Ruhe, um aufzutanken.
- Schüchterne meiden Situationen aus Angst.
Introversion ist eine Form der Energieverarbeitung. Schüchternheit ist eine Reaktion auf soziale Unsicherheit.
Du kannst introvertiert sein und sehr selbstbewusst. Du kannst extrovertiert sein und trotzdem schüchtern.
Der Unterschied liegt im Warum.
Warum es so wichtig ist, den Unterschied zu kennen
Weil Selbstwahrnehmung alles verändert.
Wenn du glaubst, du seist schüchtern, obwohl du einfach nur introvertiert bist, dann versuchst du vielleicht, dich zu „reparieren“. Du denkst, du musst lauter werden, geselliger, spontaner. Und andere sagen das vielleicht sogar zu dir. Dabei bist du vielleicht schon genau richtig, wie du bist.
Introversion ist keine Schwäche. Es ist eine Eigenschaft. Wie braune Augen oder Sommersprossen. Du musst nicht daran arbeiten. Du darfst lernen, damit zu leben und sie zu schätzen.
Schüchternheit dagegen kann dich in deiner Freiheit einschränken. Wenn du dich selbst zurücknimmst, obwohl du eigentlich reden willst, lachen willst, sichtbar sein willst – dann darfst du hinschauen. Weil unter der Angst oft dein echtes Ich wartet.
Wie du herausfindest, was auf dich zutrifft
Hier ein paar Fragen, die dir helfen können:
- Fühle ich mich nach einem Treffen mit Freunden erschöpft, selbst wenn es schön war?
- Meide ich Events, weil ich Angst habe, dort nicht dazuzugehören?
- Liebe ich es, Zeit allein zu verbringen?
- Wünsche ich mir mehr Kontakt, traue mich aber nicht, den ersten Schritt zu machen?
Wenn du bei den ersten beiden Fragen nickst: Willkommen in der Welt der Introvertierten. Wenn dich die anderen zwei treffen: Vielleicht versteckt sich da ein bisschen Schüchternheit.
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Oder vielleicht ist es auch beides. Und das ist auch okay.
Warum wir aufhören sollten, uns zu etikettieren
Manchmal bringt das Label „introvertiert“ oder „schüchtern“ mehr Verwirrung als Klarheit. Vielleicht bist du einfach du. Und das reicht.
Aber manchmal helfen diese Begriffe, um zu verstehen: Ich bin nicht falsch. Ich bin nicht allein. Und ich bin nicht kaputt, nur weil ich die Welt leiser brauche.
Was ich gelernt habe
Ich bin introvertiert (und sogar hochsensibel). Und ja, ich war auch schüchtern. Manchmal bin ich es immer noch.
Aber ich habe gelernt, meine Energie zu achten. Ich habe gelernt, dass es okay ist, nach einem Zoom-Call eine Stunde spazieren zu gehen. Dass ich nicht jede WhatsApp sofort beantworten muss. Dass ich Pausen brauche.
Und ich habe gelernt, meiner Stimme Raum zu geben, auch wenn sie zittert. Weil das, was ich zu sagen habe, zählt. Auch wenn es leise ist.
Beispiel aus meinem Leben
In Situationen mit fremden Menschen, kann ich offen auf diese zugehen. Wenn ich sie persönlich treffe, habe ich keine Angst davor, mich mit ihnen zu unterhalten. Ich mache mir keine Gedanken, was sie von mir denken könnten, wenn ich mit ihnen jetzt rede.
Oder das zusammensitzen mit Menschen, die mir am Herzen liegen, deren Gespräche aber oftmals eher oberflächlich sind oder, wenn bei jedem Treffen immer über dasselbe Thema gesprochen wird. Das strengt mich sehr an und im Nachhinein bin ich froh, wieder Zuhause zu sein.
Ich mag Familienfeiern. Früher war ich auch gerne am Wochenende in der Disco. Aber ich zog mich zurück, sobald es mir zuviel wurde.
Vor ein paar Wochen begleitete ich eine Freundin zum Gospelhaus. Wir sprachen viel über Religion (siehe meinen Artikel zum Deismus) und ich wollte es mir mal anhören. Als Kind (katholisch getauft) war ich oft in der Kirche. Aber die Predigten strengten mich sehr an. Sie waren mir zu oberflächlich. Ich konnte nicht zuhören.
Beim Gospelhaus wiederum war es mir zu laut. Die ganze Zeit saß ich da und hoffte, es wäre bald vorbei. „Wie lange geht das noch?“ Als dann ein Interview stattfand, suchte ich den schnellsten Weg nach draußen und wollte schon weinen.
Dabei finde ich das große Klasse. Wenn die Menschen daran glauben, dass feiern und darin ihren Frieden und ihren Halt finden, ist das toll. Aber das war nichts für mich.
Wenn du dich wiedererkennst…
Dann nimm das hier als Umarmung. Als Erinnerung: Du bist nicht zu ruhig. Nicht zu wenig. Nicht falsch. Du bist einfach anders gestrickt. Und das ist gut so.
Vielleicht hilft dir dieser Text, dich selbst ein bisschen besser zu verstehen. Oder jemand anderem, den du liebst.
Und vielleicht, ganz vielleicht, legst du das nächste Mal die Hand nicht auf den Mund, wenn du etwas sagen willst. Sondern auf dein Herz. Und dann sprichst du. Leise. Echt. Du.
Fazit
Introvertiert oder schüchtern – beides ist menschlich. Beides ist okay. Entscheidend ist, dass du dich selbst erkennst. Verstehst. Und annimmst.
Denn genau da beginnt echte Veränderung: Nicht im „lauter werden“, sondern im Frieden mit dir.
Und wer weiß? Vielleicht ist deine leise Stimme genau die, die die Welt gerade braucht.
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